Die Beschäftigungssituation von Autist:innen

Dieser Artikel entspricht dem Kapitel „gesellschaftliche Herausforderung“ in unserem Wirkungsbericht 2019-2020.

Die Arbeitslosigkeit unter Autist:innen ist alarmierend hoch – obwohl viele von ihnen gut ausgebildet und motiviert sind.
Warum ist das so? Welchen Herausforderungen begegnen Autist:innen im Arbeitsleben?

Die Bedeutung von Arbeit

Arbeit ist einer der entscheidenden Lebensbereiche, der gesellschaftliche Teilhabe, finanzielle Unabhängigkeit und ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Zudem gibt Arbeit eine Tagesstruktur und ist ein bedeutender Teil der Identitätsbildung und der Selbstwirksamkeit.

Die Bedeutung von Arbeit für unser Leben wird nicht nur durch die Verankerung im Grundgesetz deutlich (Art 12), sie wird auch explizit in der UN-Behindertenrechtskonvention benannt (Art 27), um Beschäftigung ohne Diskriminierung und somit gesellschaftliche Teilhabe auch für Menschen mit Behinderungen sicherzustellen. In Deutschland bleibt es auch in dieser Dekade eine der wichtigsten sozialpolitischen Aufgaben, Chancengerechtigkeit für alle in Deutschland lebenden Menschen zu gewährleisten. Der Zugang zu Arbeit ist hierbei besonders entscheidend.

Berufliche Teilhabe autistischer Menschen

Es gibt nur wenige Studien zum Thema Arbeitslosigkeit von Menschen im Autismusspektrum in Deutschland und die Autor:innen kommen zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. So sind Arbeitslosenquoten von 40% bis 60% oder gar 85% zu finden. Zum Vergleich: Die allgemeine Arbeitslosenquote lag in den letzten Jahren unter 6 %. Zusätzlich sind Autist:innen in Arbeit je nach Studie 10 bis 30% häufiger überqualifiziert und haben in einer Beschäftigung, die unter ihrem Ausbildungsniveauliegt, weniger die Chance, ihr berufliches Potential zu entfalten.

Faktoren, die die Teilhabe erschweren

Obwohl sie im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung in Arbeitslosigkeit hohe Bildungsabschlüsse aufweisen, ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen im Autismusspektrum durch verschiedene Faktoren erschwert.

Bewerbungsprozess Die Lebensläufe vieler autistischer Menschen weisen nicht selten längere Lücken auf oder sind durch häufige Wechsel gekennzeichnet. Erlernte Fähigkeiten tauchen zudem im Lebenslauf kaum auf, wenn sie nicht durch einen formalen Abschluss belegt werden können. Während die meisten Menschen versuchen, sich in einem Bewerbungsgespräch besonders gut darzu stellen, sind autistische Menschen teilweise selbstkritisch oder haben einen hohen Qualitätsanspruch an sich selbst – so fällt es schwer, im Bewerbungsprozess zu überzeugen.

Veränderungen Autist:innen fällt es bisweilen schwerer, sich auf etwas Neues einzulassen. Manchmal wird eine bekannte schlechte Situation einer vermutlich besseren, aber unbekannten Situation vorgezogen. Das erschwert die Jobsuche. Zusätzlich ist es für viele Autist:innen schwierig, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig zu fokussieren: Den Schulabschluss machen und währenddessen schon nach einer Ausbildung suchen oder sich aus der Berufstätigkeit heraus auf einen neuen Job zu bewerben, ist für manche nicht denkbar. 

Berufsausbildung Viele unserer Teilnehmenden haben nach der Schule eine berufliche Richtung eingeschlagen, die nicht gut zu den persönlichen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnissen passt. Teilweise geht mit Autismus eine Entwicklungsverzögerung einher, sodass autistische Schulabsolvent:innen unter Umständen noch nicht die nötige Reife und Selbstkenntnis haben, um gut einschätzen zu können, welcher Beruf perspektivisch gut passen könnte. Zum Anderen drängt das Umfeld nicht selten zu bestimmten Berufsausbildungen, weil diese vermeintlich zu Autist:innen passen.

Arbeitsbedingungen Durch hohe Motivation und Hingabe für die Aufgabe können Autist:innen auch in einem Umfeld, das nicht zu ihren autismusspezifischen Bedürfnissen passt, gute bis überdurchschnittliche Arbeitsleistungen erbringen. Das birgt jedoch die Gefahr, dass sie immer wieder an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geraten. Oft wird erst zu spät bemerkt, wie viel Energie es kostet, die sozialen Anforderungen zu erfüllen oder auch die Überreizung der Sinne auszuhalten. Nach außen sind diese Anstrengungen häufig nicht sichtbar, da diese durch erlerntes Verhalten kompensiert werden (sogenanntes Masking). Langfristig ist dies kaum durchzuhalten und steigert das Risiko, durch die Dauerbelastung zu erkranken (z. B. Burn-out, Depression, Angststörung).

Aufgabenmanagement Vielen Autist:innen fallen zum Beispiel Multitasking, Priorisierung von Aufgaben und Zeitmanagement schwer. Das wird jedoch häufig in Arbeitskontexten gefordert. So können manche Autist:innen von vermeintlich selbstverständlichen Tätigkeiten überfordert sein, während in anderen Bereichen überdurchschnittliche Leistungen erbracht werden können.

Kolleg:innen & Teams Für Autist:innen sind häufig soziale Anforderungen im Berufsleben eine größere Hürde als fachliche Anforderungen. Gespräche an der Kaffeemaschine, eine nicht wahrgenommene Aufforderung zwischen den Zeilen oder die ehrlich geäußerte, aber nicht sozial erwünschte Meinung sind einige Beispiele für mögliche Probleme in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit. Kompetenzen Die individuellen Stärken werden teilweise sowohl vom Umfeld, zum Teil aber auch von der Person selbst, nicht erkannt. Das liegt einerseits an einer defizitorientierten Sichtweise auf Autismus und daran, dass beispielsweise schwierige Verhaltensmuster echte Stärken überschatten. Andererseits können Stärken in einer Arbeitsumgebung, die nicht den autismusspezifischen Bedürfnissen entspricht, auch kaum zu Tage treten.

Autismuskompetenz Sowohl Arbeitgebende als auch Mitarbeitende von Jobcentern und Arbeitsagenturen haben häufig noch wenig oder von Vorurteilen geprägtes Wissen über Autismus. Hinzu kommt, dass viele Autist:innen nicht offen mit ihrer Diagnose umgehen. Das führt dazu, dass auf autismusspezifische Bedürfnisse keine Rücksicht genommen werden kann. Unterstützungsangebote Bestehende Unterstützungsangebote, wie zum Beispiel ein vom Integrationsamt finanziertes Job-Coaching, sind mit viel Bürokratie und Geduld bei der Beantragung verbunden. Viele Autist:innen und deren Angehörige wissen nicht, welche Ansprüche sie haben und wie sie diese geltend machen können. Hinzu kommt, dass es grundsätzlich zu wenige spezifische Angebote für Autist:innen im Erwachsenenalter gibt.

Ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem auf verschiedene Bedürfnisse geachtet wird, klar kommuniziert wird und verschiedene Perspektiven wertgeschätzt werden, ist für alle Teammitglieder und deren Resultate gut. Welche Vorteile neurodiverse Teams mit sich bringen und was neurodiversitätsfreundliche Bedingungen sein können, beschreiben wir in diesem Artikel.


Quellen

Dalferth, M. (2017) Zur Beschäftigungssituation von Menschen aus dem autistischen Spektrum in Deutschland und in westlichen Gesellschaften autismus, Ausgabe 83

Frank, F., Jablotschkin, M., Arthen, T., Riedel, A., Fangmeier, T., Hölzel, L. P., & Tebartz van Elst, L. (2018) Education and employment status of adults with autism spectrum disorders in Germany – a cross-sectional-survey BMC Psychiatry, 18(75)

Riedel, A., Schröck, C. Ebert, D., Fangmeier, T., Bubl, E., & Tebartz van Elst, L. (2016) Überdurchschnittlich ausgebildete Arbeitslose – Bildung, Beschäftigungsverhältnisse und Komorbiditäten bei Erwachsenen mit hochfunktionalem Autismus in Deutschland Psychiatrische Praxis, 43(01)

Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2020) Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt Nürnberg, Dezember 2020

Vogeley, K., Kirchner, J. C., Gawronski, A., Tebartz van Elst, L., & Dziobek, I. (2013) Toward the development of a supported employment program for individuals with high-functioning autism in Germany Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 263